Kategorien
Stories

Klassentreffen

„Griass eich.“ – „Schee, dassd a schon do bist.“
Der feine Wortwitz und der eigentlich darin versteckte Vorwurf, zu spät gekommen zu sein, ist für nicht Ortskundige vielleicht nicht gleich auf Anhieb erkennbar.

Oktober 2017

Ich nehme Platz am Ende der L-förmigen Tafel. Mein Blick in die Runde zeigt mir viele vertraute Gesichter, zumindest habe ich den einen oder die andere in den letzten Jahren mal immer wieder gesehen oder gar kurzen Small Talk geführt. Auch Reinhard, mein Cousin ist da, ein kurzer Blickkontakt und wir verstehen uns. Er ist zurzeit auch der einzige, mit dem ich von meinen Klassenkameraden noch häufiger Kontakt habe, also alle drei bis acht Wochen oder so. Auch gehen wir häufiger, das aber kurzfristig, frühstücken. „Cousin“ beschreibt unser Verhältnis nicht umfassend. Immerhin haben wir gemeinsam schon einiges – sagen wir mal – bewegt und erlebt. Als künstlerisch begabte Drittklässler haben wir ein schönes Weihnachtslied im Stillen umgedichtet, nur leider waren wir beim Mitsingen etwas zu laut, und unserer Lehrerin hat unser „Talent“ bemerkt. Eine Verhaltensnote wäre wohl angebrachter gewesen, die wäre weniger aufgefallen. So haben wir uns in „Musik“ ausgezeichnet und für Erklärungsbedarf am Elternsprechtag gesorgt. Mit elf Jahren haben wir aber richtige Ski-Rennen organisiert, später den Heustadl zur Boxarena umfunktioniert. Reinhard war auch mein Trauzeuge und immer bei den – zugegeben – seltenen durchzechten Nächten dabei, was ihn aber in den Augen meiner Ex-Frau zum „Brandstifter“ werden ließ.

Einer speziellen Geschichte ist es geschuldet, dass meine liebe Gattin Martina nun aber schon seit Wochen alles unternimmt, um mich von der Teilnahme am Klassentreffen abzuhalten. Gut; dass ihre Chefin, die Frau Bürgermeister ausgerechnet am gleichen Tag ihren 60er feiert, kann ich ihr wohl eher nicht anlasten, das mag wirklich Zufall gewesen sein.

Wobei die Situation in den letzten zwei Wochen umso unentspannter geworden ist, je näher der Termin nähergekommen ist. Gut, ich mag meine Teilnahme am Klassentreffen ihr gegenüber nicht allzu euphorisch kommuniziert haben, zumal ich weiß, dass sie mit den Bewohnern um und rund aus meinem Heimatdorf nicht so gut kann. Fremde, und wenn es auch nur der 25 Kilometer entfernte Nachbarort ist, haben es im Gebirge nicht leicht. Als Hauptgrund für ihr Unbehagen vermute ich einerseits das Wiedersehen mit einigen Klassenkolleginnen und meiner Hauptschul-Liebe Hanni. Sie vertraut mir scheinbar noch immer nur so weit, wie sie große Steine werfen kann.

Eigentlich unbegründet. Allerdings malt sie auch gerne schwarz-weiss. Und hätte lieber gehabt, dass ich an diesem Tag bei ihr bin, auch, weil sie in den letzten Wochen eine Tanz-Medley einstudiert haben, welches sie gemeinsam mit ihren Amtskolleginnen aufführen. Schwarz-weiss ist das Entweder-Oder, das eine oder das andere. Ich sehe das eher als Sowohl-Als-Auch. Das passt nicht immer, und so auch heute nicht ganz, weil Ihre Aufführung erst nach 21 Uhr beginnt, und wenn ich zu dieser Zeit noch nicht beim Klassentreffen bin, werden die ersten vermutlich schon wieder gegangen sein, wobei sich zweiteres noch als Irrtum herausstellen wird. Mein Kompromiss jedenfalls ist der, dass ich beide Veranstaltungen beehre, zuerst die Geburtstagsfeier der Bürgermeisterin, von der ich mich dann alsbald auch wieder freundlich verabschiede. Anderer Termin und so.

„Griass eich.“

Meine Begrüßung in die Runde.

„Schee, dassd a schon do bist.“

Die Antwort aus der Runde.

Der feine Wortwitz und der eigentlich darin versteckte Vorwurf, zu spät gekommen zu sein, ist für nicht Ortskundige vielleicht nicht gleich auf Anhieb erkennbar. Ich sehe ihn, und muss innerlich lachen, eine Antwort habe ich nicht auf Anhieb parat. Ein Klassenkamerad hilft nach: „Wennst de nächste Runde zoist, samma wieda Freind.“. Mit „Passt, moch ma“ ziehe ich mich aus der Affäre, die keine ist und ich nehme Platz am Ende der L-förmigen Tafel.

Der nachfolgende Abend, der letztlich erst am darauffolgenden Sonntagnachmittag enden soll, kann durchaus als episch bezeichnet werden, ebenso die Folgen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Unser „Proviant“ für die Zeit von 04:00 bis 06:00

Schreibe einen Kommentar